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SOS Mitmensch: Corona-Pandemie als treibender Faktor für antimuslimischen Rassismus

Verdoppelung von Politikeraussagen mit antimuslimisch-rassistischer Tendenz

In seinem Bericht über antimuslimischen Rassismus in der österreichischen Politik konstatiert SOS Mitmensch eine deutliche Zunahme an Abwertungs-, Feindbild- und Hetzkampagnen. Teile der Politik würden die Corona-Pandemie gezielt zur Stimmungsmache gegen Musliminnen und Muslime missbrauchen, so die Menschenrechtsorganisation. Auch Expert*innen und Betroffene sehen Anlass zur Sorge.

„So eine Dichte an politischer Agitation gegen Musliminnen und Muslime wie im Jahr 2020 hatten wir in Österreich noch nie. Die Krisenstimmung rund um die Corona-Pandemie wird von einigen in der Politik dazu benutzt, um Neid und Hass auf Mitmenschen alleine aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit anzufachen“, warnt SOS Mitmensch-Sprecher Alexander Pollak. Pollak betont, dass es bei antimuslimischem Rassismus nicht um die kritische Auseinandersetzung mit Religion gehe, sondern um den kollektiven Angriff auf Menschen alleine aufgrund einer Vorurteils- und Hassideologie.

Der von SOS Mitmensch präsentierte Bericht dokumentiert für das Jahr 2020 mehr als 90 antimuslimisch-rassistische Äußerungen in der Sphäre der österreichischen Spitzenpolitik, darunter etliche Großkampagnen, die sich über mehrere Wochen hinweg erstreckten. Gegenüber dem Jahr 2019 bedeutet das eine Verdoppelung der registrierten Vorfälle. Wichtiger Hintergrundfaktor sei die Coronavirus-Pandemie, die zum Aufhänger für mehrere Wellen antimuslimisch-rassistischer Agitation geworden sei, so die Menschenrechtsorganisation.

SOS Mitmensch-Sprecher Alexander Pollak: „So eine Dichte an politischer Agitation gegen Musliminnen und Muslime wie im Jahr 2020 hatten wir in Österreich noch nie. Die Krisenstimmung rund um die Corona-Pandemie wird von einigen in der Politik dazu benutzt, um Neid und Hass auf Mitmenschen alleine aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit anzufachen“

Alle im Bericht dokumentierten Fälle würden die FPÖ betreffen, doch das sei nur die Spitze eines wesentlich größeren Eisbergs, betont SOS Mitmensch. So hätten Mitglieder der Bundesregierung, darunter auch Bundeskanzler Sebastian Kurz, dem Druck antimuslimisch-rassistischer Kampagnen teilweise nachgegeben und in bestimmten sozialen Netzwerken keine Feiertagsgrüße mehr an Musliminnen und Muslimen gerichtet.

Als eine zentrale antimuslimisch-rassistische Großkampagne nennt SOS Mitmensch die in mehreren Wellen verbreitete Verschwörungsgeschichte, wonach die Bundesregierung ihre Corona-Maßnahmen an den Ramadan-Fasttagen ausgerichtet hätte und Behörden Musliminnen und Muslime bevorzugt behandeln würden. Diese Verschwörungsgeschichte sei unter anderem von FPÖ-Obmann Norbert Hofer, FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl, FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz und dem steirischen FPÖ-Obmann Mario Kunasek verbreitet worden, so SOS Mitmensch. Ein weiteres Beispiel für eine antimuslimische Großkampagne sei die kollektive Abwertung von Menschen, die den Namen Muhammed tragen. Mehrere FPÖ-Politiker, darunter auch der FPÖ-Obmann, hätten neugeborene Kinder und andere Menschen, die den Namen Muhammed tragen, pauschal als Bedrohung abgestempelt. Zielscheibe antimuslimischer Angriffe seien darüber hinaus einmal mehr kopftuchtragende Frauen gewesen. Politiker hätten Frauen mit Kopftuch zum Inbegriff des Defizitbehafteten gemacht und negative Vorkommnisse alleine auf sie projiziert, so die Menschenrechtsorganisation.

Für die Kulturwissenschaftlerin Judith Kohlenberger verdeutlicht der Bericht von SOS Mitmensch, wie die Coronakrise strategisch dafür genutzt werde, in den stark defizitorientierten Integrationsdiskurs in Österreich einzuzahlen. „Im politischen Diskurs werden Musliminnen und Muslime „fremder“ gemacht als sie eigentlich sind. Strukturelle Probleme wie häusliche Gewalt oder Bildungsmisserfolg werden einer bestimmten Ethnie bzw. Religion zugeschrieben, wodurch diese anhaltende Abgrenzung und Abwertung erfährt“, erklärt Kohlenberger. Das habe reale Konsequenzen für Betroffene, wie eine aktuelle Studie der WU Wien zeige, in der ein knappes Fünftel der befragten syrischen und afghanischen Geflüchteten angaben, seit ihrer Ankunft in Österreich mindestens einmal in der Öffentlichkeit angeschrien, angespuckt oder Opfer körperlicher Gewalt geworden zu sein. „Vor allem Frauen schreiben diese Diskriminierungserfahrungen ihrer Religionszugehörigkeit zu, wenn diese sichtbar ist“, berichtet Kohlenberger.

Kulturwissenschaftlerin Judith Kohlenberger: „Im politischen Diskurs werden Musliminnen und Muslime „fremder“ gemacht als sie eigentlich sind. Strukturelle Probleme wie häusliche Gewalt oder Bildungsmisserfolg werden einer bestimmten Ethnie bzw. Religion zugeschrieben, wodurch diese anhaltende Abgrenzung und Abwertung erfährt“

Sihaam Abdillahi war im Jahr 2020 unmittelbar Betroffene eines antimuslimisch-rassistischen Angriffs aus der Politik. Nach einem öffentlichen Auftritt als Landesschulvertreterin* zu den geplanten Corona-Maßnahmen der Bundesregierung, wurde sie von einem FPÖ-Landtagsabgeordneten ohne Sachzusammenhang mit „der Ideologie der Muslimbrüder“ und einer möglichen Bedrohung für „unseren Parlamentarismus“ in Verbindung gebracht. „Ich war richtig geschockt“, beschreibt Abdillahi ihre erste Reaktion. Sie habe zwar schon davor rassistische Erfahrungen gemacht, aber das sei das erste Mal gewesen, dass sie von einem Politiker attackiert worden sei, noch dazu in aller Öffentlichkeit, so die 17-jährige Schülerin, die im vergangenen Jahr eine der Gewinnerinnern des mehrsprachigen Sag’s Multi Redewettbewerbs war. „Manche tun so, als wäre ich erst gestern Mittag in Österreich angekommen. Dabei bin ich hier aufgewachsen, ich gehe hier zur Schule. Hier ist meine Familie, hier sind meine Freunde. Ich erwarte mir, dass ich als Teil der Gesellschaft respektiert werde. Und ich wünsche mir, dass gegen rassistische Spaltung gekämpft wird“, so ihr Appell an die Bevölkerung und die Politik.

Muhammed Yüksek war im vergangenen Jahr ebenfalls direkt von antimuslimisch-rassistischen Angriffen aus der Politik betroffen. Nachdem er Anzeige wegen der rassistischen FPÖ-Kampagne gegen Menschen mit dem Namen „Muhammed“ erstattet hatte, wurde er von der FPÖ-Wien als „SPÖ-Moslem“ verunglimpft und ohne jeglichen Sachbezug mit „radikalen Islamisten“ und „Islamisierung“ in Verbindung gebracht. Yüksek betont, dass er eine dicke Haut habe, dennoch würden ihn die rassistischen Kampagnen betroffen machen. „Seit über 50 Jahren leben wir als Gesellschaft miteinander, arbeiten als KollegInnen und leben als Nachbarn und Freunde. Unsere Kinder drücken gemeinsam die Schulbank, teilen sich Pausenräume und wachsen miteinander auf. Genau das macht unsere Gesellschaft aus. Daher dürfen wir nicht hinnehmen, dass Menschen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit politisch ausgegrenzt, für Wahlkämpfe missbraucht oder mit abwertenden Kampfparolen stigmatisiert werden“, erklärt Yüksek. Er richtet einen eindringlichen Appell an die Politik: „Genug ist genug, antimuslimischer Rassismus darf nicht länger als Kavaliersdelikt hingenommen werden.“

Bezirkspolitiker Muhammed Yüksek: „Seit über 50 Jahren leben wir als Gesellschaft miteinander, arbeiten als KollegInnen und leben als Nachbarn und Freunde. Unsere Kinder drücken gemeinsam die Schulbank, teilen sich Pausenräume und wachsen miteinander auf. Genau das macht unsere Gesellschaft aus. Daher dürfen wir nicht hinnehmen, dass Menschen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit politisch ausgegrenzt, für Wahlkämpfe missbraucht oder mit abwertenden Kampfparolen stigmatisiert werden“

SOS Mitmensch fordert von der Bundesregierung, sich an Ländern wie Deutschland und Norwegen ein Beispiel zu nehmen, wo die Regierungen inzwischen Gremien ins Leben gerufen haben, die sich mit Muslimenfeindlichkeit befassen. „Es ist ein schwerwiegendes Versäumnis, dass die österreichische Bundesregierung bislang keine Handlungen gegen antimuslimischen Rassismus gesetzt hat. Bei kollektiver Abwertungs- und Hassrhetorik darf es kein Schweigen und kein Wegschauen mehr geben“, so SOS Mitmensch-Sprecher Pollak.

Den Bericht finden Sie auf der Webseite von SOS Mitmensch zum Herunterladen.

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